Das erste Goetheanum, Dornach

Kleiner Einblick

An dem ersten Goetheanum wurde von 1913 bis 1922 gearbeitet. Zum Silvester 1922 / 1923 war der Bau nahezu abgeschlossen. Dann wurde es in dieser Silvesternacht durch Brandstiftung zerstört. Es brannte nieder bis auf die Grundmauern.

Bedenkenswert ist die Tatsache, dass dieser Bau anfangs des 20. Jahrhunderts gebaut wurde. In einer Zeit also, in der die Kunstauffassung völlig im Umbruch war (siehe Bildhauerei des 20. Jahrhunderts).

Zum ersten Mal in der Kunstgeschichte wurde mit diesem Bau die Idee der Metamorphose künstlerisch manifestiert. Die erste Darstellungsart der Formmetamorphose waren die Gestaltungen, die sich je nach Ort, an dem erschienen, umbildeten. Die zweite Darstellungsart war die Formmetamorphose, die eine Formentwicklung darstellte. Es ist eine befreiende Entdeckung, dass unser Bewusstsein das Vermögen besitzt ein inneres, einheitliches Gestaltungsprinzip wiederzuerkennen, wenn es sich nach Verwandlungsgesetzen manifestiert. Ein Gestaltungsprinzip, das für sich nur geistig erfassbar ist.

Unter diesem Aspekt können Beispiele am Bau des ersten Goetheanums gezeigt werden.

Der ganze Bau bestand aus einem grossen, breiten Sockel auf dem sich zwei zylindrische Bauten erhoben, die einander durchdrangen. Der grosse Zylinderbau umschloss den Zuschauerraum, der Kleine die Bühne und beide Zylinder waren oben mit Kuppeln abgeschlossen.

Rund herum gab es Fenster. Nach Westen, Süden und Norden gab es Portale, unten im Sockel wie oben auf dem Sockel.

Ein Bild dieses Baues gibt der Link:  https://images.app.goo.gl/7V6GwB1MzSJDySB6A

Stand man oben auf der breiten Terrasse des Unterbaues vor dem West-Portal, sah man rechts und links zwei kräftig-aufstrebende, säulenartige Gebilde, die sich oben in kraftvolle Formen aufschlossen und die gemeinsam einen grossen, weiten Raum freigaben. Aus diesem Raum erhob sich ein Formprinzip, das den oberen Bereich des Portals breit umhüllte und das nach unten (nach rechts und links) zwei kräftige Gebilde hervortreten liess. 

Ging man auf der Terrasse herum zum Süd-Portal, gewahrte man eine ähnliche Gestaltung. Auch hier gab es die säulenartigen Gebilde rechts und links, aber das Formprinzip in dem oberen Raum war hier anders. Hier war der obere Teil metamorphosiert in zwei sich ausbreitenden Formgestalten. Jede Seite hatte auch die umhüllende Geste, aber sie waren über Kreuz mit den unteren Gebilden (die sich etwas in die Länge zogen) verbunden. Deutlich ist zu erkennen, dass wir es mit demselben Formprinzip des West-Portals zu tun haben. Je nach Lage am Raum metamorphosiert sich am Bau dieses Formprinzip.

Grosse Fenster waren in die zylindrische Wand eingelassen. Alle wiederum eingerahmt von säulenartig-aufstrebenden Gebilden, die oben in die Fassadenwand übergingen. Über jedes Fenster gab es auch hier einen grossen Raum und in diesem Raum erschien wieder das nun bekannte Formprinzip in verwandelter Gestalt

Wer eine noch andere Formverwandlung bei der Fensterreihung des nördlichen Flügels sehen möchte, schaue sich das Bild mit dem folgenden Link: https://images.app.goo.gl/xuePdoqSzTqx5Kqp7 

Später will ich zu diesem Thema noch weitere Skizzen hinzufügen, denn das Formprinzip, das wir nun kennengelernt haben, findet sich auch im Innenraum wieder. Einmal erkennt man es wieder über dem Bühnenportal und noch einmal zeigt es sich ganz hinten im Bühnenraum, wo es fast architrav-artig über den Bogen der letzten zwei Säulen erscheint.

Rudolf Steiner machte öfters Führungen im Goetheanum. Zu den ungewohneten Formenvielfalt  erwarteten die Besucher  Deutungen und Erklärungen von ihm, doch er betonte immer wieder, dass die Formen dieses Baues keine Allegorien oder Symbole darstellten und bat die Besucher die Formen einfach als Formen anzuschauen und das eigene künstlerische Empfinden sprechen zu lassen. (siehe: Literaturverzeichnis / Kunstgeschichte/ 4)

Was sich in diesem Bau neu manifestierte, war aus einem organisch-empfundenen Formwillen hervorgegangen. Es waren keine Abbilder noch Gesetze der organischen Natur, sondern so wie die organische Natur ihre Formen schafft nach den ihr innewohnenden Bildgestaltsprinzipien, so prägte Rudolf Steiner den gesamten Formfundus aus seinem geistigen Ideenvermögen. 

Im Zuschauerraum stand ein Säulenkranz. Sieben Säulen zur rechten und sieben Säulen zur linken Seite. Diese Säulen hatten Kapitelle, deren Formen in Holz geschnitzt waren. Hier wurde eine zweite Art der Metamorphose sichtbar: die Metamorphose einer Entwicklung.

Die Formen waren in Plastilin-Modellen entworfen. Rudolf Steiner hatte diese 1907 zum theosophischen Kongress in München schon einmal entworfen. Er hatte 1907 den Zeichner, Karl Stahl, beauftragt, diese Entwürfe gross auf zweieinhalb Meter hohe Holzbretter zu malen. Diese Bilder wurden in den Versammlungssaal aufgehängt, wo der Kongress stattfand. Im ersten Goetheanum dagegen wurden sie nach neuen Entwürfen vollplastisch geschnitzt.

Mir geht es bei diesen Formen darum, die Umsetzung der Idee der Metamorphose als Entwicklung zu zeigen. Deshalb habe ich hier unten die gezeichneten Bilder von Karl Stahl so getreu wie möglich abgezeichnet.

Die Innenarchitektur des ersten Goetheanums entwarf Rudolf Steiner in einem Modell. Die Säulen waren so gestaltet, dass sie einen fünfeckigen Schafft hatten. Die Kapitellform wurde auf eine siebeneckige Trommel modelliert, die oben und unten von einem Zehneck begrenzt war. 

Hier sehen Sie Abgüsse dieser Kapitellformen.

Wenn die Motive 1 bis 7 betrachtet werden, erkennt man als Motiv ein «Oberes» und ein «Unteres». Dieses Motiv ist in einer Wandlung begriffen. Von einem Einfachen wird es, zur Mitte hin, zu einem Differenzierten, dann wird es in der Folge immer einfacher.

1. Oberes und Unteres stehen einander gegenüber und umspannen einen Innenraum.

2. Das Obere tritt kräftig hervor, schwillt an und bewegt sich nach unten. In der Wölbung oben ist in der Mitte etwas Keimhaftes entstanden, das sich nach unten neigt. Das Untere hat sich von der Kante zurückgezogen und in der Mitte gesammelt. Dort ist ein aufstrebendes Motiv entstanden, das sich nach oben aufschliesst.

3. Das Obere streckt sich weiter nach unten. Das Volumen ist leicht zurückgenommen. Dort, wo bei (2) etwas Keimhaftes entstanden war, dort hat sich ein kelchartiges Gebilde geformt, das sich hinunter senkt. Dem Untere ist das Aufstrebende genommen. Für mein Empfinden ist die Zurücknahme so stark, dass es wie ein «Altar» wirkt.

4. Hier verbindet sich das Obere und das Untere zu einer Einheit und diese Einheit trennt sich vom oberen Kapitellrand. Das ganze Motiv wirkt kraftvoll und erscheint prall in seinen Flächen. Ganz oben kündigt sich etwas Neues an, wirkt noch völlig unbestimmt.

5. Bedeutend wirkt hier die Zentralgestalt. Diese wirkt aufstrebend, bewegt, funkelnd, während sich oben kräftige, konvexe (tropfenähnliche) Formen gebildet haben.

Die Motive waren bis jetzt auf die sieben Flächen der Kapitelltrommel aufgetragen. Die Metamorphose zum 6. Motiv ist schwierig zu verstehen, wenn die Bildung der mittleren Form des 5. Kapitells völlig seitwärts gedacht werden muss und die obere kräftig, konvexe Tropfenform vom 5. zum 6. Kapitell von der Kante der Trommel auf die Mitte der Fläche wechselt. Rudolf Steiner gibt hier die Lösung, indem er sagt, dass bei den letzten zwei Kapitellen das Gesamtmotiv von der Fläche auf die Kante (5 zu 6) und von der Kante auf die Fläche (6 zu 7) wechselt.

6. Die oberen, konvexen Tropfenformen haben sich hinunterbewegt, sich aufgeschlossen und liegen nun mitten oben auf der Fläche und wirken gespreizt über den Raum, den sie sich «beschenkend» oder «ausstrahlend» zuwenden. Die untere Form hat sich aufwärts gestreckt (wie «gefaltete Hände»), liegt jetzt auf die Kante. Nach obenhin wirkt sei andächtig, nach unten in einer Einheit mit den anderen Formen verbunden, eine Einheit, die von der oberen Form «gesegnet» wird.

7. Wiederum wechselt das Motiv von der Fläche auf die Kante. Die obere «Blütenform» hat sich zurückgenommen, die untere Form hat einen Innenraum gebildet und schwingt in einer grosszügigen Bewegung aufwärts und hinunter. Eine Harmonie ist entstanden.

Viele Einzelheiten habe ich hier nicht angesprochen. Wer sich im Anschauen länger mit dieser Metamorphose befasst, wird vieles mehr entdecken.

In der Plastikschule am Goetheanum (Werklehrer- und Bildhauerschule) wurden die Kapitelle in wahrer Grösse nach den Plastilinmodellen Rudolf Steiners gearbeitet. Sie wurden in Gips ausgeführt. Hier von links nach rechts: das Zweite, das Sechste und das Siebte Kapitell.

oder lesen Sie hier eine Ausführung zur Ausbildung des Werklehrers (1971):